Mittwoch, 19.02.2025 18:15 Uhr

Gusto Gräser - ein Prophet des 20. Jahrhunderts?

Verantwortlicher Autor: Sergej Perelman Kronstadt/München, 09.02.2025, 12:31 Uhr
Presse-Ressort von: Sergej Perelman Bericht 3313x gelesen
Gusto Gräser (um 1909). Foto: Hermann Müller, Freudenstein Knittlingen

Kronstadt/München [ENA] Arthur Gustav Gräser (1879-1958), bekannt als Gusto Gräser, war eine schillernde, tiefsinnige, gütige, rätselhafte und zutiefst eigensinnige Person seiner Zeit, die jedoch ein zeitloses Vermächtnis für uns Heutige bereithält sowohl in Form von Anekdoten, die anspornen und inspirieren, als auch von meditativen Gedichten und Sentenzen, die uns ergreifen, erheben, erwecken wollen aus dem Tode des Unlebendig-seins.

Die nachstehende Darstellung wird ein sehr unvollständiges Bild von Gusto Gräser zeichnen, dem zahlreiche Zuschreibungen anhaften: Maler, Dichter, Barfußprophet, Lebensreformer, Einsiedler, Wanderer, um nur einige wenige zu nennen, und um den sich mannigfaltige Merkwürdigkeiten ranken. Folgendes stellt viel mehr eine kaleidoskopartige Schau einiger weniger Fragmente aus dem äußeren und inneren Leben des "Arthur Siebenbürger" dar, wie er sich beizeiten selbst nannte, um einerseits der Frage nachzugehen, ob Gräser ein Prophet war, andererseits die Leser hoffentlich hungrig und durstig zu machen nach einem Nachschlag, den sie sich dann beispielsweise über den verlinkten Dokumentarfilm und weitere verlinkte Quellen besorgen können.(1)

Ein paar staccatoartige Lebensdaten zur ersten Annäherung

Am 16.2.1879 kommt GUSTAV ARTHUR GRÄSER zu Kronstadt in Siebenbürgen (heutiges Rumänien) zur Welt. Sein Vater war ein Bezirksrichter, seine Vorfahren siebenbürgische Geschichtsschreiber und Bischöfe. Er stirbt am 27.10.1958 in Freimann bei München. Doch bei dem Wörtchen 'stirbt' deutet sich im Falle GRÄSERS etwas anderes an als die übliche, materialistische Vorstellung einer endgültigen Auflösung von allem. Hier schon mal ein erster kurzer Exkurs zu einer Innenschau seiner Weltanschauung in Form eines Auszugs aus einem seiner Gedichte: "Schau den Lebendigen: / Sich innig verwendend, starrt ihm kein Ende, / stört ihn kein Tod. / Aufgehend im Eben, lässt auf ihn das Leben blühn, / weil er ihm traut, ist Es ihm grün."(2)

30.8.1890 kommt GUSTO GRÄSER nach Hermannstadt ins Gymnasium, 16.5.1894 Vater SAMUEL JOSEPH "CARL" GRÄSER stirbt in Tekendorf. 1894 muss er das Gymnasium verlassen. 3.9.1894 bricht Gräser eine Lehre in Kronstadt nach zwei Wochen ab. Die Lehre bei einem Goldschmied und Kunstschlosser hat Gusto im Oktober 1896 mit Gesellenprüfung abgeschlossen. 1897 Besuch der Kunstgewerbeschule in Wien. 1898 schließt er sich der Künstlergemeinschaft des Malers und Sozialreformers Karl Wilhelm DIEFENBACH an, verlässt ihn jedoch nach wenigen Monaten. 1899 zerstört GRÄSER seine Bilder und begibt sich auf Wanderschaft.(3)

Spurensuche nach einer geistigen Neugeburt

Der Bruch mit Diefenbach, die Zerstörung der bis dato erschaffenen Kunstwerke und der Aufbruch als Wanderer lassen vermuten, dass dieser stürmischen und entschlossenen Bewegung mindestens ein tiefes und sehr prägendes intimes, seelisches Erlebnis vorausging, das die Macht haben musste, eine innere wie auch äußere Verwandlung zu bewirken. Der Versuch, die Spuren einer derart wirkmächtigen Erfahrung zu suchen und zu deuten, bildet den Gegenstand dieses Abschnitts des vorliegenden Artikels.

"Der Liebe Macht" - so lautet der Titel des links abgebildeten Gemäldes von GRÄSER aus dem Jahre 1899, das noch erhalten geblieben ist. Es stellt dasselbe Thema ins Zentrum der Betrachtung wie auch schon das wahrscheinlich bereits ein wenig früher angefertigte plastische Relief mit dem Namen "Mit Gott vereint" (1898). Beide Werke greifen auf den Stoff und die Bilder der Paradieserzählung aus dem Alten Testament zurück. Jedoch kehren beide die Bibel-Geschichte um und lassen die aus dem Paradies vertriebenen Adam und Eva den Garten Eden wiederfinden und ermöglichen die Rückkehr dorthin.

Gräser, Gusto: "Mit Gott vereint" (1898), Plastisches Relief, www.gusto-graeser.info

Wenn wir beide Titel in eins setzen, bekommen wir in verdichteter Form das Gottesbild, die Grundlage und das Ziel für das gesamte Wirken und die ganze Botschaft des JESUS von NAZARETH aus dem Neuen Testament (nach der Reformtheologie von EUGEN DREWERMANN) - Gott ist Liebe, die Einheit mit ihm bedeutet Erlösung aus dem Zustand des Vertriebenseins aus dem Paradies, der Gottesferne, der Angst. Das wohl eindeutigste Zeichen dafür, dass diese zwei Kunstwerke auf den Geist JESU (im Sinne einer universellen Menschlichkeit und keines kirchlichen bzw. konfessionellen Dogmas) verweisen, ist das Bild des Kindes, das im Relief sogar dreifach vorkommt.

Beim Kinde denken wir natürlich an die Weihnachtsgeschichte, wo Gott als Kind "geboren" wird und ihren Sinnzusammenhang mit dem parallelen Ausspruch Jesu: "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen." (Mt 18,3) Deuten wir das Kind als Sinnbild für ein unbedingtes Vertrauen in eine Liebe, die will, dass es den Einzelnen gibt, verbunden mit einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach Geborgenheit und Frieden, verstehen wir, dass wir nur dann wieder zurückfinden können ins Paradies, wenn wir auch unbedingt vertrauen in eine Liebe, die möchte, dass es uns gibt, und uns tragen lassen von unserer leidenschaftlichen Sehnsucht.(4)

Die Weihnachtsgeschichte enthält das alte Motiv von der Jungfrauengeburt, das sich als ein Traumbild deuten lässt, das uns versichern will, dass jeder von uns niemals nur das Produkt seiner Eltern, das Produkt seines sozialen Umfeldes und fremder Erwartungen ist, nein, wir sind unendlich viel mehr. Dieses "Mehr" ist unser göttlicher Ursprung - aus "der Liebe Macht". Dies wiederum ist eine passende Überleitung zu einer verwandten sinnbildlichen, existenziellen Vorstellung: einer "Geburt aus Geist" (Joh 3,5-8) und der Hauptthese dieses Abschnitts, dass GUSTO GRÄSER, folgen wir den Bildern seiner beiden Kunstwerke, erlebt haben wird, was es heißt "aus Geist geboren zu werden". Doch was sagt die zitierte Stelle im Johannes-Evangelium aus?

Dort heißt es: "5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist." Bei diesen Worten kommt einem GRÄSERS Bruch mit dem Alten und der Aufbruch zum Neuen nicht mehr seltsam vor, sondern erscheint als eine logische Konsequenz "aus einer Geburt von Neuem".

Überblickt man das gesamte bekannte Leben des GUSTO GRÄSER, so scheint Joh 3,5-8 es trefflich zu beschreiben; doch nicht nur die äußeren Begebenheiten seines Lebenslaufs, sondern auch seine Dichtung wie z. B. sein Werk "TAO", das im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen wird, ist ein ausdrucksstarker Beleg dafür, dass GRÄSER sich festmacht in etwas, das sich nicht äußerlich verorten lässt, sondern ihn aus dem eigenen Inneren mit Vertrauen, Güte, Mut und Inspiration speist - "der Liebe Macht", "Mit Gott vereint" oder "TAO", sind mögliche Namen für sein Zuhause. In ganz besonderer Weise deuten die nachstehend geschilderten Anekdoten auf die Wirklichkeit seiner "Geburt aus dem Geist" bzw. "Geburt von Neuem" hin.

Belege für eine "Geburt aus Geist"

Gerade heute, da hierzulande ständig nur die Rede ist von Kriegstüchtigkeit, Aufrüstung und immer tödlicheren Waffensystemen, lädt GUSTO GRÄSER uns ein, einen ganz anderen, kaum betretenen Pfad zu nehmen. 1902 verweigert er den Militärdienst und kommt in Kerkerhaft in Österreich. Im Herbst 1915 wird GRÄSER aus Deutschland nach Österreich ausgewiesen, dort verweigert er den Kriegsdienst, das Urteil lautet: Erschießung. Wie das dann am Ende ausgeht, erzählt die folgende Anekdote. Es ist sehr wahrscheinlich, dass GRÄSERs Haltung und das daraus folgende Wirken in diesem Kontext eben aus einer "Geburt von Neuem" resultieren und ganz im Sinne JESU das 'Reich Gottes' aus dem Herzen in die Wirklichkeit tragen als eine sich erfüllende Gegenwart.

HERMANN MÜLLER (geb. 1931), der Freund und Biograf von GUSTO GRÄSER, hat die Begebenheiten rund um GRÄSERs Kriegsdientverweigerung wie folgt aufgearbeitet. "Auf die Nachricht jedoch, dass ihrem Mann in Siebenbürgen die Verurteilung und möglicherweise seine Hinrichtung bevorstand, eilte sie [Elisabeth Dörr, GRÄSERs Frau aus wilder Ehe, Anm. d. Verf.] im Dezember 1915 mit der fünfjährigen Trudel nach Kronstadt, um Gusto nahe zu sein. Gusto, vor die Entscheidung gestellt, die Uniform anzuziehen oder erschossen zu werden, war standhaft geblieben. Während die meisten anderen Frauen ihren Mann bestürmt hätten, um der Kinder willen sich sein Leben zu erhalten, tut sie nichts dergleichen, sondern bestärkt ihn noch in seinem Entschluss."(5)

"Sie will sogar dabei sein, wenn er erschossen wird, hat aber das Gefühl, dass ihm nichts geschehen könne. Und tatsächlich: als sie frühmorgens an den Ort der Hinrichtung kommt, ist Gräser verschwunden. Über Nacht hatte man ihn nach Klausenburg in eine Irrenanstalt transportiert."(6) "Zu Kronstadt auf der Burg, [...], als Militärdienstverweigerer verurteilt, erschien ihm an der Kerkerwand ein Bild: eine endlose Schar von lachenden Erdensöhnen, die Menschen der Zukunft. 'Hei, wie das lacht und kracht!'"(7) Als Gegenentwurf zu allem in der Welt Sichtbarem und Selbstverständlichem empfängt GRÄSER eine Vision von einem ganz anderen Menschen, der sich eine ganz andere "Welt" erschafft. Diese Vision findet auch ihre Verwirklichung.

"Einer seiner jungen Freunde machte aus dieser Vision ein Büchlein, die 'Worte an eine Schar'. Er proklamierte die Hoffnung, dass sich aus der Mitte der Jugend heraus 'die heilige Schar bilden wird, die mit der Leidenschaft der Liebe um die Geburt des neuen Menschenbildes ringt. Ein anderer junger Freund, Friedrich Muck-Lamberty, unternahm es, diesen Bund im Wandervogelfeld zusammenzutrommeln. Ab Pfingsten 1920 zog die 'Neue Schar' singend, tanzend und spielend durch Thüringen. 'Ganz Thüringen tanzt … Tausende auf einem Platz!', schrieb der Verleger Eugen Diederichs. Gräsers Gedichte flatterten dem Zug voran, er sang und sprach an den Lagerfeuern der Schar. Von einem 'Kreuzzug der Fröhlichkeit' war die Rede, von einem 'Kinderkreuzzug'."(8)

Merkmale des Prophetischen

Wir wollen uns in diesem Abschnitt mehrerer typischer Merkmale des Prophetischen vergegenwärtigen und im nächsten Schritt überprüfen, ob das jeweilige Merkmal auch eine beispielhafte Parallele im Leben des GUSTO GRÄSER findet. "Da ist zunächst der Zwang zur Entscheidung", kennzeichnet der Theologe EUGEN DREWERMANN einen Aspekt der prophetischen Ausstrahlung.(9) Dabei geht es um die Tatsache, dass ganz gleich zu was, das Auftreten eines Propheten seine Zuhörer nicht gleichgültig lassen kann, sondern sie zu höchster Ablehnung oder größter Bejahung zwingt. Betrachten wir die Reaktionen auf die Person GRÄSERS unter seinen Zeitgenossen, so lässt sich eben diese Polarisierung innerhalb der Rezeption seines Wesens feststellen.

Es gibt Menschen wie z. B. HERMANN HESSE, die, wenn auch zeitweise, ihre bürgerliche Existenz aufgeben, um an GRÄSERs Seite in einer Höhle nahe Ascona (Südschweiz) ein naturverbundenes und meditatives Leben abseits des genormten bürgerlichen Daseins zu führen. Ein anderer Freund, ALFRED DANIEL, gibt seinen Beruf als Rechtsanwalt auf, um einen neuen Lebensentwurf zu spinnen. GRÄSERS Kriegsdienstverweigerung und seine Vision aus der Kerkerhaft inspiriert beispielsweise einen seiner Freunde, den Drechslergesellen Muck-Lamberty, zu Pfingsten 1920 den Zug der 'Neuen Schar' ins Leben zu rufen, bei dem zunächst 25 Burschen und Mädchen singend und tanzend durch Nordbayern und Thüringen ziehen und dann Zehntausende mit sich reißen.

"Gräsers Gedichte flatterten ihrem Zug voran, er selbst wanderte zeitweise mit, sprach abends an ihren Lagerfeuern. Hesse hat diesen 'Kreuzzug der Liebe' in seiner Erzählung 'Die Morgenlandfahrt' als "Aufbruch in das Reich einer kommenden Psychokratie" und ihren geistigen Führer in der Gestalt des Dieners Leo verewigt."(10) Andererseits sind die zahlreichen Verhaftungen und Ausweisungen von GUSTO GRÄSER bekannt. Es gibt gefühlt kein Jahr seit ca. 1905, in dem GRÄSER nicht aus verschiedenen deutschsprachigen Gemeinden, Ländern und Staaten vertrieben wurde. Die bayrische Staatsregierung kennzeichnete ihn als "staatsgefährlichen Rumänen" und wollte ihn aus dem Deutschen Reich ausweisen, doch GRÄSER bekam Unterstützung von THOMAS MANN.

"Hinter diesem Eindruck der Unausweichlichkeit steht zum zweiten, wie bei jedem Propheten, das Geheimnis seiner eigenen unverwechselbaren Person. [...] Schon im Alten Testament treten die Männer und Frauen, die als Propheten wirken, mit dem Anspruch auf, die Träger einer unbedingten, alles entscheidenden Botschaft zu sein. In ihnen spricht Gott, das glauben sie selber, und das soll man von ihnen glauben, so sehr, dass sie immer wieder, als seien sie die bloßen Boten einer übermenschlichen Wahrheit, Gott selber zu zitieren vorgeben: 'So spricht der Herr...!' In gerade einem soclhen Sendungsbewusstsein erklärt auch Jesus: 'Ich aber sage euch...'(Mt 5,27.32.39.44)", lautet DREWERMANNS weitere Charakterisierung des Prophetischen.(11)

"Natürlich: 'Er macht sich nur wichtig.' 'Er ist ein Scharlatan.' 'Er lästert Gott.' (Mk 14,64) Und: 'Er wiegelt das Volk auf' (Lk 23,5). So lauten verständlicherweise sogleich die üblichen Repliken auf das Auftreten eines Propheten. Und doch liegt diesen Leuten nichts ferner als persönlicher Ehrgeiz und Profilierungssucht. [...] Was groß ist an diesen glühenden Gestalten der Religionsgeschichte, das ist der größere Atem, der sie durchweht", führt DREWERMANN seine Typisierung fort.

"Es ist die Größe der Aufgabe, der sie sich weihen, die ihre Persönlichkeit ausmacht und hinter der das Private zum unbedeutenden Beiwerk herabsinkt. Eben dieser Kontrast: mit der gesamten eigenen Person für eine Wahrheit einzutereten, die unendlich viel größer ist als alles Eigene, macht das Wesen einer prophetischen Existenz aus: auf höchst persönliche Weise durchdrungen zu sein von dem überpersönlichen Anruf ihrer Mission - das ist die Art ihres Lebens", hebt DREWERMANN noch hervor.(12) Der Bezug der eigenen Person auf etwas Größeres im Hintergrund, aus dem geschöpft und dessen Wahrheit mitgeteilt wird, geht im Falle GRÄSERS auch schon aus dem oben Mitgeteilten hervor.

Vor allem bei der Lektüre von GRÄSERS Werk 'TAO, das heilende Geheimnis: ein in den Wehen der Zeit wiedergeboren Menschheit-Buch zur großen Heimkehr - Genesung - unserer Welt', einer sehr subjektiven und dichterisch kreativen Neuschöpfung des 'Tao Te King' des chinesischen Meisters LAO TSE, spürt der Leser, dass die Macht, um die es GRÄSER geht, eine ist, aus der wir alle leben und in der wir alle in Wirklichkeit geborgen sind. "TAO" - das ist im Falle GRÄSERS "der größere Atem", der ihn "durchweht" und ihm eine "überpersönliche Mission" einzugeben scheint, aus dem geistige Heimkehr und Genesung erwachsen sollen. Im Grunde genommen ist dies eine Neuauflage des Themas seines frühen Gemäldes 'Der Liebe Macht' schon.

Auch GRÄSER musste sich Repliken wie "Scharlatan, Träumer, Schmarotzer, Wolkenkuckucksheimer, Phraseur, Faulenzer" gefallen lassen.(13) Wie keinem anderen Zeitgenossen von GRÄSER ist es wohl HERMANN HESSE in seiner kleinen Schrift 'Zarathustras Wiederkehr' am besten gelungen, das Geheimnisvolle der unverwechselbaren Person GRÄSERS einzufangen und in Worte zu fassen. "In den letzten Tagen des Januar schrieb ich, unter dem Druck der Weltereignisse, in zwei Tagen und Nächten die kleine Schrift 'Zarathustras Wiederkehr', welche bald darauf anonym erschien", so äußert sich HESSE selbst zum Zarathustra. Dabei beschreibt er den Entstehungsvorgang als "fast bewußtloses Schreiben, das sich völlig explosiv vollzog".(14)

Genau in die Zeit des Frühjahres 1919 fällt eine Korrespondenz zwischen HESSE und GRÄSER über dessen TAO-Dichtung. Ähnlich wie die Evangelisten sich der Person Jesu angenommen haben, so hat vielleicht auch HESSE sich dem Geheimnis von GRÄSER verschrieben, das er in eine legendenhafte Erzählung packt, wo es an einer Stelle sehr bezeichnend heißt: "Von einer entfernten Straße her hörte man in diesem Augenblicke Schüsse, großes Geschrei und Kampflärm hallen; sonderbar und töricht klang es durch den stillen Abend. Und wie Zarathustra sah, dass die Blicke und Gedanken seiner jungen Begleiter dort hinüberliefen wie junge Hasen, da änderte er den Ton seiner Stimme."(15)

"Sie klang plötzlich wie aus einer großen Fremde her - und klang genauso, wie sie einst, beim ersten Kennenlernen, den Jünglingen getönt hatte -, wie eine Stimme, die nicht von Menschen kommt, sondern von Sternen oder Göttern her, oder, noch mehr, wie eine Stimme, die jeder heimlich in der eigenen Brust vernimmt, zu Stunden, wo Gott in ihm ist."(16) Bei vertiefter und vergleichender Lektüre von 'Zarathustras Wiederkehr' und GRÄSERS TAO-Nachdichtung lassen sich an einigen zentralen Stellen geistige Parallelen auffinden. Deshalb wird die Lektüre beider Schriften dem interessierten Leser sehr ans Herz gelegt.

"In Wahrheit aber gehört es zur Grundüberzeugung prophetischer Rede, dass sich Entscheidendes religiös überhaupt nur in den gegenwärtigen Augenblick hineinsprechen lässt. Fälschlich gelten die Propheten im Volksmund als Ansager einer fernen Zukunft; in Wirklichkeit nehmen sie den Augenblick jetzt [...] als die Kreuzungsstelle von Zeit und Ewigkeit so radikal ernst, dass sie alle weiteren Ereignisse als Konsequenz gegenwärtiger Entscheidung begreifen", lautet ein weiteres Merkmal des Prophetischen nach EUGEN DREWERMANN.(17) Aus GRÄSERS Leben und Werk lassen sich in diesem Zusammenhang vielerlei Belege für die Erfüllung des besagten Merkmals anführen.

"Nicht Lehren, nicht Worte: sein Sein ist die Botschaft. Der Ton seiner Stimme, der Blick seiner Augen, der Rhythmus seiner Schritte. 'Er will kein System aufstellen, er lässt die Worte und Gedanken frei seinem Innern entströmen, so wie sie dort entstehen.' Seine Botschaft ist eine ganz einfache: 'Ich bin da!' Will sagen: Ich bin im Hier und Jetzt. Er hat den 'Mut, gelassen da-zu-sein'. Und seine Forderung an die Menschen lautet: 'Sei da, sei Du, sei ein Freund!' So schon in einer Flugschrift von 1912", beschreibt HERMANN MÜLLER (Biograf und Freund GRÄSERS) die Wesensart GRÄSERS.

Die bisherigen Betrachtungen zu der Frage, ob GUSTO GRÄSER ein Prophet war, legen zumindest die Vermutung nahe, dass seinem Leben und Werk etwas Rätselhaftes und Befreiendes anhaftet, das sich durchaus als prophetisch im Sinne des hier herangezogenen theologischen Schemas einordnen lässt. Doch die vorliegende Darstellung soll vor allem Interesse wecken für die Person und das Werk des wenig bekannten Dichters und Wanderpredigers GUSTO GRÄSER und vielleicht wiederholt eigensinnige Menschen dazu inspirieren, auf ihre ganz persönliche Weise einen neuen Zug der Liebe, tanzend und singend, durch die Lande zu veranstalten, als ein Tauwind, der die verfrorenen Herzen aus ihrem Kerkerdasein der Angst zu neuem, ewigen Leben befreit.

Dichterischer Ausklang

Der 74. Spruch aus GUSTO GRÄSERS 'TAO' bildet den Ausklang dieses Artikels: "Durch Todfurcht denkt ihr Gesetzgewaltigen / das Volk in Ordnung zu halten - / oh Tohuwabohu, oh Mördermoral in Euren Gehirnen! / Todfurcht ists ja, die uns die Ordnung verwirrt! / Liebmut - Ehrfurcht vor Leben ists, / die uns die Ordnung erzeugt. / Ordnungskraft webet in jedem Wesen - / zu der traut, auf die baut! / Aber wenn ihr mit Zangen des Zwanges die Seelen / in Todfurcht zerret, / schneidt ihr Euch, hütet Euch, selber ins Fleisch!"(18)

(1) Dokumentarfilm über Gusto Gräser: https://www.youtube.com/watch?v=ukA-5cU8Dtw. (2) Gusto Gräser: TAO. Das heilende Geheimnis. Ein in den Wehen der Zeit wiedergeboren Meschheit-Buch zur großen Heimkehr – Genesung – unserer Welt, 3. erweiterte Aufl. 2016, Umbruch-Verlag, Buchrückseite. (3) http://www.gusto-graeser.info, Reiter: "Leben". (4) Vortrag von Eugen Drewermann zur Bedeutung von Weihnachten: https://www.youtube.com/watch?v=80KdOPn6-6k. (5,6) http://www.gusto-graeser.info, Reiter: "Personen", "Elisabeth". (7,8) http://www.gusto-graeser.info, Reiter: "Leben". (9,11,12,17) Eugen Drewermann: Glauben in Freiheit oder Tiefenpsychologie und Dogmatik, Band 1, Dogma, Angst und Symbolismus, 2. Aufl., Walter 1993, S. 51-61.

(10,13) Hermann Müller: Gusto Gräser – der deutsche Lao Tse, in: TAO. Das heilende Geheimnis. Ein in den Wehen der Zeit wiedergeboren Meschheit-Buch zur großen Heimkehr – Genesung – unserer Welt, 3. erweiterte Aufl. 2016, Umbruch-Verlag, S. 83-101. (14-16) Hermann Hesse: Zarathustras Wiederkehr, in: Hermann Hesse. Politik des Gewissens. Die politischen Schriften 1914-1932. Vorwort v. Robert Jungk. Hg. v. Volker Michels. Erster Band. Frankfurt am Main 1977. © Suhrkamp Verlag, S. 279-303; 352. Alle Rechte liegen beim Verlag. (18) Gusto Gräser: TAO. Das heilende Geheimnis. Ein in den Wehen der Zeit wiedergeboren Meschheit-Buch zur großen Heimkehr – Genesung – unserer Welt, 3. erweiterte Aufl. 2016, Umbruch-Verlag, S. 74.

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