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Postwachstumsökonomie - der letzte Ausweg

Verantwortlicher Autor: Sergej Perelman Siegen (DE), 20.01.2022, 16:05 Uhr
Presse-Ressort von: Sergej Perelman Bericht 8882x gelesen
Gorilla. Stellvertretend für das, was es zu bewahren gilt.
Gorilla. Stellvertretend für das, was es zu bewahren gilt.  Bild: Gerhard G. https://pixabay.com.

Siegen (DE) [ENA] 'Postwachstumsökonomie' ist ein wachstumskritischer ökonom. Gegenentwurf zum kapitalistischen Streben nach mehr Wachstum. Ihre These, kurz und prägnant: Tatsächliche Schonung von Mensch und Natur ist nur möglich, wenn wir unseren Konsum reduzieren und nicht von Öl- auf Lithiumausbeutung umsteigen.

Gleich zu Beginn seines Aufsatzes 'Die Postwachstumsökonomie als plünderungsfreier Zukunftsentwurf' betont der Ökonomie-Professor Dr. Niko Paech von der Universität Siegen, dass die menschliche Zivilisation sich in einen folgenschweren Irrtum verrannt habe. Dieser besteht in einer "unreflektierten Ausrichtung an Wachstum und Technisierung", welche zu einer tiefen ökologischen Nachhaltigkeitskrise geführt hat. Paech kritisiert, dass 'grün' anmutende Transformationsversuche wie 'Green (New) Deal' nach derselben "system-konformen Logik" funktionieren, welche uns die Probleme erst beschert hat. Dabei werden "bisher verschont gebliebene Naturgüter" und Landschaften industriell verwertet, was einer Intensivierung des Raubbaus gleichkommt.(1)

Als Belege für die Widersprüchlichkeit der 'Green New Deal'-Innovationen führt Paech die folgenden, mit ihnen im Zusammenhang stehenden Prozesse an: "Dies zeigt die deutsche Energiewende – der beispielsweise für den Odenwald geplante Windkraft-aubau entspricht seiner perfekten landschaftlichen Zerstörung – genauso eindrucksvoll wie die Tesla-Ansiedlung in der Grünheide, die Lithium-Förderung in Bolivien, die Neodym-Gewinnung in China, die Elektroschrott-Lawine in Afrika oder die Wasserkraftprojekte in Brasilien und der Türkei."(2) Diese paradoxe Dynamik der 'pseudo-ökologischen Modernisierung' ist der Grund für das Entstehen und Erstarken der wachstumsskeptischen Strömung, die von Paech als 'Postwachstumsökonomik' bezeichnet wird.

Die Postwachstumsökonomie ('degrowth') will den oben aufgezeigten Widerspruch (jedes Wirtschaftswachstum bedeutet notwendigerweise Ausbeutung von neuen Ressourcen) auflösen hin zu einem "ökonomisch und sozial krisenstabilen Versorgungssystem, das ein global gerechtes Dasein innerhalb ökologischer Grenzen erlaubt".(3) Dies könne nach Auffassung von Paech und anderer Vertreter der Denkströmung nur durch "eine Kombination aus Reduktion und Selbstbegrenzung erreicht werden".(4) Suffizienz und Subsistenz sind die Schlüsselbegriffe innerhalb dieser ökonomischen Denk- und Praxisschule.

Die Suffizienz spricht direkt persönliche Einstellungen, Wertvorstellungen und Prioritäten an und fragt, von welchen "Energiesklaven und Komfortkrücken" und von welchem "Wohlstandsschrott" der Einzelne sich befreien könnte, um Zeit, Geld und Raum zu sparen und das Übrige lustvoller zu genießen.(5) Paech stellt eine dreigliedrige Ausprägung der Suffizienz vor: Selbstbegrenzung, Reduktion und vollständige Entsagung.(6) Bei der Selbstbegrenzung setzt man sich eine quantitative oder qualitative Grenze bei einem bestimmten Versorgungsniveau und verzichtet z.B. entweder auf den Kauf von zusätzlichen Kleidungsstücken oder auf den Kauf von noch teureren Objekten. Der Bestand wird nur dann wieder aufgefüllt, wenn ein Stück nicht mehr tragbar wird.

Reduktion bedeutet, dass man z.B. eine Urlaubsreise nicht mehr wie bisher zweimal im Jahr antritt, sondern nur einmal. Im Bereich der Ernährung könnte man bspw. seinen Fleischkonsum halbieren. Vollständige Entsagung läuft darauf hinaus, dass man sich gänzlich von einer oder mehreren Optionen verabschiedet: kein Fleisch mehr, kein Handy mehr, kein Auto mehr... Paech konstatiert, dass eine vernunftgeleitete Umsetzung von Suffizienz leichter wird, wenn man zwischen basalen Grundbedürfnissen und reinem Luxus unterscheidet und dabei bemisst, was für Folgeschäden der Konsum nach sich führt.(7)

Der zweite Grundpfeiler der wachstumskritischen Ökonomie - die Subsistenz - ist eine strukturelle Kategorie, die das Ziel verfolgt, "die Balance zwischen Selbst- und Industrieversorgung neu zu justieren."(8) Dabei soll die industrielle Produktion durch Formen der Selbstversorgung ersetzt werden, um ergänzend zu einer Erwerbsarbeit eigenständig an der Befriedigung seiner Bedürfnisse teilzuhaben.(9) Die Zeit dafür wird durch den Rückbau der Industrie und die Senkung der Wochenarbeitszeit bereitgestellt. Für die Realisierung ist die Aktivierung von diversen handwerklichen Fähigkeiten nötig.

Neben ehrenamtlichen, gemeinwesenorientierten, pädagogischen und künstlerischen Betätigungen umfasse moderne Subsistenz drei Output-Kategorien, durch die sich industrielle Produktion graduell substituieren lasse: 1. Nutzungsintensivierung durch Gemeinschaftsnutzung, 2. Nutzungsdauerverlängerung: Ein besonderer Stellenwert käme der Pflege, Instandhaltung und Reparatur von Gebrauchsgütern jeglicher Art zu, 3. Eigenproduktion: Im Nahrungsmittelbereich erweisen sich Hausgärten, Dachgärten, Gemeinschaftsgärten und andere Formen der urbanen Landwirtschaft als dynamischer Trend, der zur De-Industrialisierung dieses Bereichs beitragen kann. Darüber hinaus seien künstlerische und handwerkliche Leistungen möglich bis hin zur "Marke Eigenbau".(10)

Ausführlichere Infos zum Konzept und zur Praxis der Postwachstumsökonomie werden unten verlinkt.(11) In ihrem Buch 'COVID-19: The Great Reset' verweisen der Professor für Ökonomie und Gründer des 'World Economic Forum' Klaus Schwab und der französische Ökonom Dr. Thierry Malleret darauf, dass 1.100 Experten aus der ganzen Welt im Mai 2020 ein Manifest veröffentlicht haben, in dem sie vorschlagen, mithilfe der 'degrowth'-Strategie die aktuelle COVID-19-Krise zu bewältigen. Ihr offener Brief rufe zur Verabschiedung einer demokratisch „geplanten, aber anpassungsfähigen, nachhaltigen und gerechten Verkleinerung der Wirtschaft, die zu einer Zukunft führt, in der wir mit weniger besser leben können“ auf.(12)

Jedoch stellen sich Schwab und Malleret gegen den Vorschlag der Vertreter der Postwachstumsökonomie und behaupten: "However, beware of the pursuit of degrowth proving as directionless as the pursuit of growth! The most forward-looking countries and their governments will instead prioritize a more inclusive and sustainable approach to managing and measuring their economies, one that also drives job growth, improvements in living standards and safeguards the planet. The technology to do more with less already exists."(13)

Weiter führen die beiden Kritiker von 'degrowth' aus: "There is no fundamental trade-off between economic, social and environmental factors if we adopt this more holistic and longer-term approach to defining progress and incentivizing investment in green and social frontier markets."(14) Um eine fachkundige Stellungnahme zu der vorgebrachten Kritik seitens Schwab und Malleret zu bekommen, wurd Herr apl. Prof. Dr. Niko Paech von mir um eine solche gebeten. Herr Paech hat mir erlaubt, seine Einwände gegen Schwab und Malleret zu veröffentlichen, was im Folgenden auch geschieht.

"Schwab/Mallerert bewegen sich auf der Ebene weit verbreiteter Fortschritts-ideologien und verlieren sich in Widersprüchen, wenn sie einerseits weder Degrowth noch Wachstum als Ziel empfehlen wollen, aber dann doch von einer Nachhaltigkeits-strategie raunen, die Arbeitsplätze und den Lebensstandard wachsen lässt. Die These, dass die moderne Ökonomie in keinem Konflikt zu ökologischen Belangen stünde, könnte unzutreffender nicht sein."

"Das Scheitern jeglicher Versuche, den technisierten und globalisierten Wohlstandskomplex - ganz zu schweigen von dessen weiterem Wachstum - von ökologischen Schäden zu entkoppeln , wird täglich offenkundiger. Wer gegen diese Realität anredet, schielt auf den Applaus jener, die vom konsumorientierten Lebensstil so abhängig sind, wie der Junkie vom Dealer." So der Kommentar von Prof. Paech. Darüber hinaus betont Prof. Paech, dass wenn alle Green Growth-, Energiewende- oder sonstigen Entkopplungsversuche systematisch zum Scheitern verurteilt seien, entspreche es schlichter Mathematik, dass postwachstums-kompatible, also reduktive Entwicklungsschritte, den letzten Ausweg markieren würden.(15)

(1) https://www.denknetz.ch/wp-content/uploads/2021/12/JB_Innen_21_214_print.pdf, S. 73. (2) wie (1), S. 73f. (3) wie (1), S. 75. (4) wie (1), S. 75. (5) wie (1), S. 76. (6) wie (1), S. 76. (7) wie (1), S. 76. (8) wie (1), S. 78. (9) wie (1), S. 78. (10) wie (1), S. 78f. (11) wie (1), http://www.postwachstumsoekonomie.de/, https://www.degrowth.info/en/open-letter. (12) http://reparti.free.fr/schwab2020.pdf, S. 29. (13) http://reparti.free.fr/schwab2020.pdf, S. 29. (14) http://reparti.free.fr/schwab2020.pdf, S. 29. (15) wie (1), S. 80.

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